MELiSSE
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Menschen mit sogenannter Behinderung werden nicht als sexuelle Wesen wahrgenommen. Sex macht normal.
Wenn man Menschen mit sogenannten Behinderungen als sexuelle Wesen wahrnimmt, dann ist der Schritt zur Inklusion auch wieder kleiner.
Die größten Hindernisse im Bereich Sexualität sind einfach die Fachkräfte, Trägerstrukturen und natürlich auch die Angehörigen.
Yvonne: MELiSSE heißt „MEine Liebe und Selbstbetimmte SExualität“.
Paul: Wir sind prinzipiell der Meinung, dass Menschen mit sogenannter Behinderung nicht als sexuelle Wesen wahrgenommen werden. Sie wurden meist in a-sexuellen Umfeldern sozialisiert. So dass wir ihnen durch sexuelle Bildung erst einmal den Zugang zur sexuellen Mitte der Gesellschaft bereiten müssen, damit sie dann auch in Austausch treten können. Wir sind der Meinung, dass verschiedene Bedürfnisse und Kompetenzen bestehen und die wollen wir aufgreifen und weiterentwickeln. In einfachen Worten gesagt, sind wir der Meinung: „Sex macht normal“. Wenn man Menschen mit sogenannten Behinderungen als sexuelle Wesen wahrnimmt, dann ist der Schritt zur Inklusion auch wieder kleiner.
Menschen mit sogenannten Behinderungen dürfen essen. Menschen mit sogenannten Behinderungen dürfen schlafen. Das sind Grundbedürfnisse. Aber Menschen mit sogenannten Behinderungen dürfen keinen Sex haben, was aber auch ein Grundbedürfnis ist. Das können wir nicht akzeptieren. Wir sind der Meinung, wenn man die Maslowsche Bedürfnispyramide nimmt, dann müssen die Grundbedürfnisse befriedigt werden. Erst dann können alle anderen darauf aufbauenden Bedürfnisse bzw. Sozialkompetenzen gelebt werden. Deswegen finden wir Sexualität, Liebe und Partnerschaft als Thema extrem wichtig. Wir fragen uns, warum das Thema noch nicht eher auf den Tisch gekommen ist. Es wird versucht, Menschen mit sogenannten Behinderungen in den Bereichen Arbeit, Wohnen, Schule zu inkludieren. Aber bei Sexualität ist das bisher absolut nicht möglich.
Frau Seubert: Für mich ist das auch eine zentrale Facette der Inklusion, die ja genau einen anderen Ansatz hat, als die Integration. Unser Ansatz in unserem Projekt sagt: Wir nehmen ein Grundbedürfnis wie die Sexualität, welches bisher keine Rolle spielte. Bei ‚normalen Menschen‘ wird Sexualität im Privaten gelebt. Wenn du aber weitestgehend institutionalisiert lebst, wo ist dann deine Privatsphäre?
Paul: Die größten Hindernisse im Bereich Sexualität sind einfach die Fachkräfte, Trägerstrukturen und natürlich auch die Angehörigen.
Interview geführt am: 03. September 2019
Paul: Wir sind prinzipiell der Meinung, dass Menschen mit sogenannter ‚Behinderung‘ nicht als sexuelle Wesen wahrgenommen werden. Sie wurden meist in a-sexuellen Umfeldern sozialisiert. So dass wir ihnen durch sexuelle Bildung erst einmal den Zugang zur sexuellen Mitte der Gesellschaft bereiten müssen, damit sie dann auch in Austausch treten können. Wir sind der Meinung, dass verschiedene Bedürfnisse und Kompetenzen bestehen und die wollen wir aufgreifen und weiterentwickeln. In einfachen Worten gesagt, sind wir der Meinung: Sex macht normal. Wenn man Menschen mit sogenannten ‚Behinderungen‘ als sexuelle Wesen wahrnimmt, dann ist der Schritt zur Inklusion auch wieder kleiner. Menschen mit sogenannten ‚Behinderungen‘ dürfen essen. Menschen mit sogenannten ‚Behinderungen‘ dürfen schlafen. Das sind Grundbedürfnisse. Aber Menschen mit sogenannten ‚Behinderungen‘ dürfen keinen Sex haben, was aber auch ein Grundbedürfnis ist. Das können wir nicht akzeptieren. Wir sind der Meinung, wenn man die Maslowsche Bedürfnispyramide* nimmt, dann müssen die Grundbedürfnisse befriedigt werden. Erst dann können alle anderen darauf aufbauenden Bedürfnisse bzw. Sozialkompetenzen gelebt werden. Deswegen finden wir Sexualität, Liebe und Partnerschaft als Thema extrem wichtig. Wir fragen uns, warum das Thema noch nicht eher auf den Tisch gekommen ist. Es wird versucht, Menschen mit sogenannten ‚Behinderungen‘ in den Bereichen Arbeit, Wohnen, Schule zu inkludieren. Aber bei Sexualität ist das bisher absolut nicht möglich.
Wir versuchen momentan sachsenweit die „Schatzkiste“, eine Partner*innenvermittlung für Menschen mit sogenannten ‚Behinderungen‘, die Unterstützungbedarf bei der Partner*innensuche erfordern, aufzubauen. Natürlich hakt das ein bisschen, weil es eine Partner*innenvermittlung nur für Menschen mit sogenannten ‚Behinderungen‘ ist. Aber es muss erstmal ein Grundstein gelegt werden, um den Kontakt zwischen Menschen mit und ohne sogenannten ‚Behinderungen‘ zu ermöglichen.
Wir benutzen die Begrifflichkeit Menschen, die behindert werden, oder Menschen mit sogenannten ‚Behinderungen‘. Wir wissen, dass das auf einem fachlichen Niveau nicht korrekt ist. Weil Behinderung als gesellschaftliche Konstruktion definiert wird. Wir sind aber der Meinung, dass das in der gesellschaftlichen Mitte nicht angekommen ist. Wir denken, dass die Menschen auf der Straße nicht wissen, wie Behinderung offiziell definiert ist. Deswegen sagen wir im Bereich der Sexualität: „Menschen, die behindert werden.“ Das ist unsere Formulierung, weil es auch genauso ist. In diesem Bereich geht es wirklich um Haltung im Kopf und um Zugänge. Man muss nichts bauen, es geht allein um die Wahrnehmung der Menschen, die behindert werden.
Frau Seubert: Für mich ist das auch eine zentrale Facette der Inklusion, die ja genau einen anderen Ansatz hat als die Integration. Unser Ansatz in unserem Projekt sagt: Wir nehmen ein Grundbedürfnis wie die Sexualität, welches bisher keine Rolle spielte. Bei ‚normalen‘ Menschen wird Sexualität im Privaten gelebt. Wenn du aber weitestgehend institutionalisiert lebst, wo ist dann deine Privatsphäre?
Yvonne: MELiSSE heißt „Meine Liebe und selbstbestimmte Sexualität“. Die Melisse ist natürlich auch eine Pflanze, die z.B. gegen Regelschmerzen und Herzschmerzen hilft. Das passt also ganz gut. Es gibt vier verschiedene Projektbausteine, die sich in den vier Blättern der Melisse widerspiegeln.
- Baustein: Wir bieten in ganz Sachsen Veranstaltungen an, vor allem Multiplikator*innenschulungen. Wir sprechen Einrichtungen an oder Einrichtungen kommen auf uns zu. Wir waren z.B. schon in der Hochschule Görlitz. Wir haben dort eine Veranstaltung für zukünftige Heilpädagog*innen gemacht. Es können natürlich auch Menschen, die behindert werden, als Gruppe auf uns zukommen und sagen: „Wir haben Lust im Bereich Partner*innenschaft, Sexualität und Verhütung etwas zu erfahren.“
- Baustein: Wir bieten Sprechstunden an. Wir gehen entweder zu den Menschen, die behindert werden, oder diese Menschen kommen zu uns. Diesbezüglich sind wir gerade dabei, das Haus, in dem unser Büro ist, barrierefreier zu gestalten. Denn es ist sehr hochschwellig, überhaupt hierherzukommen. Wir möchten aber die Möglichkeit bieten, auch außerhalb des gewohnten Umfeldes Beratung zu finden. Wir kommen aber auch gerne zu den Menschen, die Fragen haben.
- Baustein: Die „Schatzkiste“ ist ein Mittel zur Vernetzung in ganz Sachsen. Wir möchten gerne Netzwerke aufbauen, die verschiedene Orte in ganz Sachsen miteinander verbinden. Das funktioniert ganz gut über die „Schatzkiste“. Da wird auch einrichtungsübergreifend miteinander gearbeitet. Z.B. brauchen wir für die „Schatzkiste“ in verschiedenen Kreisen verschiedene Ansprechpartner*innen, die z.B. die Daten einpflegen und so weiter. Die Schatzkiste ist eine nicht öffentliche Internetplattform. Wir können durch die Mitgliedschaft im Schatzkiste e. V. eine Software nutzen, die wir den Einrichtungen zur Verfügung stellen. Die wiederum brauchen aber natürlich Stunden und Personal für die Arbeit der „Schatzkiste“. Im Prinzip läuft es so, dass die Menschen, die Unterstützung bei der Partner*innensuche erfordern, zu den Schatzkiste-Mitarbeiter*innen kommen können und sagen: „Ich wünsche mir eine*n Partner*in, der*die so aussieht oder bestimmte Interessen hat, um z.B. die Freizeit zusammen zu gestalten.“
Aber das ist natürlich eine aufwändige Arbeit. Man sagt ungefähr fünf Stunden pro Woche. Über die Software gibt es dann ‚Matches‘, wie bei Tinder oder anderen Plattformen auch. Die Personen, die ihr Profil eingestellt haben, bekommen dann nicht direkt eine Nachricht, sondern werden von den Schatzkiste-Mitarbeiter*innen kontaktiert und eingeladen. Diese begleiten auf Wunsch auch das erste Kontaktgespräch.
Die „Schatzkiste“ ist kein offenes Portal. Sie wird von den einzelnen Einrichtungen betrieben, und je mehr daran teilnehmen, desto größer wird natürlich auch der Pool. In den Großstädten funktioniert das ganz gut, aber in den ländlichen Bereichen momentan noch nicht so richtig. Wir haben verschiedene Einrichtungen angeschrieben, aber es fehlen dort oft die Kapazitäten. Dies spricht wiederum dafür, dass es mehr Vernetzung geben muss. Deshalb versuchen wir die Träger*innen hier in Sachsen zu erreichen und mit dem Thema zu konfrontieren. So soll das Thema Sexualität endlich mit auf die Agenda kommen.
Paul: Wir haben unsere Webseite in Leichte Sprache übersetzt, und wir geben auch Kontakte zu Sexualassistent*innen heraus. Das war bisher kaum möglich, weil die ‚Firewalls‘ der sogenannten Behindertenhilfe-Träger*innen so etwas blockieren. Bestimmte Inhalte werden quasi generell geblockt. Bei uns sind diese Inhalte aber frei zugänglich. Wir haben eine Sachsen-Karte, auf der alle Träger, die sexuelle Bildung anbieten, verzeichnet sind. Dort sind z.B. auch alle Schwangerschaftsberatungsstellen genannt. Die haben z.B. auch den gesetzlichen Auftrag, Sexualaufklärung für alle zu leisten. Die Beratungsstellen müssen auch Menschen, die behindert werden, schulen können. Das können aber nicht alle, weil sie sich einfach mit dem Thema noch nicht auseinandergesetzt haben. Deshalb haben wir die Kontakte freigegeben und hoffen, dass die Zielgruppe die Angebote in Anspruch nimmt. Erst dann gibt es eine Rückkopplung, welche Kompetenzen nötig sind, um die Zielgruppe zu schulen. Manche Beratungsstellen haben bei uns nachgefragt, warum sie auf dieser Karte verzeichnet sind. Denn sie sind der Meinung, dass sie gar nichts mit Menschen, die behindert werden, zu tun haben. Wir meinen aber, wenn es z.B. um homosexuelle Menschen geht, dann müssen auch Menschen, die behindert werden, Informationen zugänglich gemacht werden. Denn warum sollten Menschen, die behindert werden, nicht auch homosexuell sein. Diesbezüglich müssen wir auch ganz viel Sensibilisierungsarbeit leisten. Wir müssen Barrieren ausfindig machen und diese abbauen
Yvonne:
- Baustein: Die Angehörigenarbeit ist der vierte Baustein. Es ist allerdings sehr schwierig, an die Menschen ranzukommen. Wir haben uns überlegt, dass wir den besten Zugang zu Angehörigen v.a. über die Förderschulen sicherstellen können.
Frau Seubert: Wir haben als Träger*in die große Chance, dass wir keine Einrichtung in der Behindertenhilfe haben. Wir haben keine Interessen, die widersprüchlich sind. Wir haben das Thema Sexualität und können als „pro familia“ eine Kompetenz vorweisen. Sonst ist es oft so, dass die Träger*innen auf ihren eigenen Stall schauen und dann Vieles im Haus stattfindet. Dadurch entstehen Grenzen. Diese Grenzen haben wir aber nicht, denn wir schauen auf die Menschen. Wir schauen auf deren Rechte. Die anderen Träger*innen machen das zwar auch, aber nur in ihrem Bereich. Das ist aber das Problem, und genau das ist keine Inklusion. Aber hier verändert sich mittlerweile etwas bei den Fachkräften und bei den Träger*innen. Dort wird langsam klar, dass sich etwas verändern muss. Mit unserem Projekt merken wir, dass wir teilweise offene Türen einrennen.
Paul: Ich bin im Rahmen meiner Masterarbeit in das Projekt gekommen. Ich habe damals Frau Seubert angefragt, ob sie mir Wissen im Bereich Sexualität und Behinderung vermitteln kann. Sie hat mir gesagt, dass „pro familia“ schon länger eine Fachkraft in diesem Bereich sucht. Meine Masterarbeit hatte die sexuellen Bedürfnisse von Menschen, die behindert werden, zum Inhalt. Mein Fokus lag auf Sexualbegleitung. Ich habe dann im Rahmen meiner Arbeit festgestellt, dass es schon in den 50er und 60er Jahren Veröffentlichungen gab, in denen von Sexualität und Behinderung gesprochen wurde. Das Thema ist also schon länger präsent, und mich hat es damals in der Hochschule sehr geärgert, dass einfach kein Transfer zwischen Theorie und Praxis stattfindet. Bücher, die geschrieben werden, kommen in der Praxis nicht an. Das habe ich in meiner Masterarbeit aufgegriffen und habe dann auch von Angehörigen und einer Fachkraft Feedback bekommen.
Wir haben mit Frau Seubert und dem Sozialministerium versucht, eine finanzielle Grundlage im Vorgängerprojekt zu finden, um weiter in diesem Bereich tätig zu werden. Die größten Hindernisse im Bereich Sexualität sind einfach die Fachkräfte, Trägerstrukturen und natürlich auch die Angehörigen. Bei den Angehörigen von Frauen ist z.B. das Grundproblem, dass sie Angst davor haben, dass ihre Töchter schwanger werden. Eltern haben selbst erlebt, wie es ist, eine behinderte Tochter großzuziehen. Sie wollen ihrer behinderten Tochter nicht das Gleiche zumuten. Bei Männern fehlt das Vertrauen der Angehörigen, dass der Mann eine Partner*innenschaft führen kann. Bei den Fachkräften liegt es meist an der fehlenden Sensibilität sowohl für die eigene als auch für die Sexualität der*des Adressat*in. Deshalb können sie noch schwieriger mit anderen Leuten zu diesem Thema in Austausch treten.
Ein gewisser Grad an sexuellen Kompetenzen wird ja eigentlich über die schulische Sexualaufklärung vermittelt. Allerdings fällt das bei den Menschen, die behindert werden, oftmals weg.
Yvonne: Es herrscht natürlich auch eine rechtliche Angst. Die Frage ist, wie weit kann man gehen. Welche Befugnisse habe ich als Fachkraft. Darf ich assistieren? Im Sinne von: Die Person kann ihre Hand nicht bewegen, darf ich dann die Hand sein, um sich selbst zu befriedigen. Dort herrschen in den Einrichtungen ganz viele Ängste. Darf ich z.B. Sexualassistenz in meiner Einrichtung erlauben, oder ist es Prostitution? Was bedeutet das neue Prostitutionsschutzgesetz? Das sind viele offene Fragen.
Frau Seubert: Wir haben da ein ganz offenes Format bezüglich einer möglichen Herangehensweise. Es geht immer darum, zu gucken, was wird wo gebraucht. Es gibt ja schon verschiedene Projekte in Deutschland, die sich mit Sexualität und Behinderung beschäftigen. Die Frage ist aber immer, ob das bei den Angehörigen und den Fachkräften ankommt. Gibt es vielleicht zu dem Thema bereits Konzeptionen in den Einrichtungen? Das sind Punkte, die wir mit dem Projekt leisten wollen. Dafür haben wir Formate, aber wie man sie inhaltlich füllt, das muss man regional vor Ort entscheiden. Genau deshalb haben wir es offen gestaltet, damit wir immer situationsbedingt entscheiden können, wie wir an die Zielgruppe herankommen können. Das ist auch das Schöne an unserem Projektantrag. Das Projekt ist sehr offen angesetzt und kann sich entwickeln.
Speziell hier in Sachsen war lange die Aussage, dass wir keinen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention brauchen. Erst die SPD hat es in den letzten Koalitionsvertrag eingebracht. Und erst dann ist der Aktionsplan mit einem breiten Beteiligungsprozess gekommen. Und das verändert gerade auch etwas. Jetzt muss man schauen: Was heißt Inklusion? Inklusion bedeutet, dass die die da sind, sich öffnen müssen, dass z.B. Beratungen zu einem bestimmten Thema sich natürlich auch für Menschen, die behindert werden, öffnen müssen. Und das ist ein Veränderungsprozess, der Stück für Stück einsetzen muss.
Paul: Wir schreiben auch alle Kreis- und Landesverbände der Träger*innen in Sachsen an und bringen ihnen unser Projekt näher. Wir waren z.B. beim „Hurentag“, und wollten dort einfach die Gesellschaft dafür sensibilisieren, dass Sexualbegleitung für Menschen, die behindert werden, eine Rolle spielt. Jede sexuelle Handlung gegen Entgelt ist Prostitution. Sexualtherapie wird aber gar nicht mitgedacht für Menschen, die behindert werden und auch für Menschen, die nicht behindert werden. Wir waren deshalb an der VHS und wollen 2020 Kurse für Fachkräfte und Menschen, die behindert werden, anbieten. Wir gehen an die Behindertenbeauftragten ran und versuchen alle Kanäle zu nutzen. Wir versuchen auch mit den AIDS-Beratungsstellen zusammenzuarbeiten, die bisher v.a. die Sexualaufklärung mit Menschen, die behindert werden, geleistet haben. Wir fragen einfach überall an und erkundigen uns, was dort gebraucht wird, welche Themen relevant sind. Es gibt natürlich auch Anrufe: „Ich möchte eine Freundin haben, was muss ich tun?“
Wir sind bereits auf Elternabende eingeladen worden. Das Interesse an sich ist sehr groß. Sexualität und Menschen, die behindert werden, ist schon ein sehr großes Thema. Damit sind auch alle irgendwie konfrontiert. Die Fachtage, die zu dem Thema bereits stattgefunden haben, waren quasi überlaufen.
Yvonne: Die Nachfrage ist im Prinzip sehr groß, und wir können gar nicht alles leisten, was von uns erwartet oder erhofft wird. Aber wir können als Netzwerk und Multiplikator*innen dienen und im Prinzip versuchen, alle existierenden Fachkräfte weiter zu vermitteln. Die Fachkräfte wollen ja auch das Wissen haben. Ein erster großer Punkt war z.B. das Thema „Sexuelle Grenzverletzungen in Institutionen“ und die Entwicklung von Schutzkonzepten als Präventivmaßnahme. Sexualität in der sogenannten „Behindertenhilfe“ wurde also bisher erst dann thematisiert, wenn sie den Arbeitsablauf stört. Sexualität ist aber auch ein Grundbedürfnis und will gelebt werden.
Paul: Es entsteht natürlich Frust und dadurch, dass es sexualisierte Übergriffe in der sogenannten „Behindertenhilfe“ – von Seiten der Adressat*innen, als auch durch die Fachkräfte - gab, ist das Thema Sexualität erst überhaupt ins Gespräch gekommen. So ist es ja meistens: Vom Problem zur Lösung.
„Empower-Sexualbegleitung“ ist ein geschützter Begriff. Den Abschluss kann man nur an einem Ort in Deutschland, in Trebel bei Herrn Lothar Sandfort, als Qualifikation erlangen. Die Ausbildung ist jedoch recht kostenintensiv. In Sachsen gibt es einige Sexualbegleiter*innen. Sexualassistent*innen können dabei ehemalige Sexarbeiter*innen, mit oder ohne eine sozialpädagogische Qualifikation, Sexualbegleiter*innen, Soziolog*innen und/ oder Trauma-Bewältiger*innen sein. Man kann auch im Bereich Coaching die sexuelle Begleitung anbieten. Es gibt aber keinen deutschlandweiten Studiengang der Sexualbegleitung. Die meisten kommen auch aus dem Bereich Tantra oder haben einfach kein Problem, mit ihrem Körper zu arbeiten. Die Sexualassistent*innen, die wir auf unserer Homepage auflisten, sind aus den verschiedensten Bereichen. Wir können sie nur „Sexualbegleiter*innen“ nennen, wenn Sie die entsprechende Ausbildung vorweisen. Es gibt sehr vielfältige Angebote, mit oder ohne Geschlechtsverkehr, das kann man nicht von vornherein alles festlegen.
Die meisten haben ein großes Einzugsgebiet. Man muss aber dazu sagen, dass es durch das Prostitutionsschutzgesetz grundsätzlich erschwert wird, weil jede Stadt und jede Region selbständig ihre Sperrbezirke reguliert. In Dresden ist fast überall Sperrbezirk, und dort wo ein Sperrbezirk ist, darf keine Prostitution stattfinden. Da Sexualbegleitung Prostitution ist, und natürlich zahlreiche Wohnheime und Altenpflegeheime in solchen Sperrbezirken verortet sind, müsste man rein theoretisch in ein Stundenhotel außerhalb des Sperrbezirks fahren. Das erhöht die Kosten und den Aufwand. Das wurde z.B. bei dem Prostitutionsschutzgesetz überhaupt nicht mitgedacht. Das betrifft z.B. alle Menschen, die behindert werden, aber auch Frauen, die über eine Sexualtherapie gewaltsame Erfahrungen aufarbeiten müssen. An diesen Stellen müssen wir natürlich auch politisch aktiv werden. Wir haben deshalb die für diesen Bereich verantwortlichen Fachkräfte der Parteien angeschrieben, aber bisher von niemandem eine Antwort erhalten. Wir müssen einfach über unsere Team-Kompetenzen verschiedene Zugänge zur Politik finden.
Frau Seubert: Wir wollen im Laufe unseres Projektes z.B. einen Antrag einreichen, der diese Facette des Gesetzes thematisiert. Und dann findet hoffentlich eine öffentliche Anhörung im Sozialausschuss auf Basis dieses Antrages statt. Dann hat man eine Öffentlichkeit für das Thema. Es ist vielleicht auch erwähnenswert, dass unser Projekt deutschlandweit einzigartig ist, da wir flächendeckend arbeiten und nicht nur regional ansetzen. Wir müssen als „pro familia“ auch schauen, was gibt es schon an Kompetenzzentren für Sexualität für Menschen, die behindert werden. Wir als „pro familia“-Verband haben schon einige Kompetenzen, die dann flächendeckend anzuwenden sind. So sollen am Ende natürlich auch alle anderen „pro familia“-Landesverbände von dem, was wir hier erarbeiten, einen Nutzen haben.
Paul: Wichtig ist zu sagen, dass es bei „pro familia“ schon so eine Koordinierungsstelle im Vorfeld gab. Es ist utopisch zu denken, dass wir in den drei Jahren, die das Projekt laufen wird, dieses Thema vollständig bearbeiten können. Deshalb muss man langfristig planen. Ich muss mich als Koordinator des Projektes auch ein bisschen runterfahren. Man kann nicht alles erreichen, was man sich wünscht. Man muss ja in verkrusteten Strukturen und in verkrusteten Regionen tätig werden. Das ist teilweise extrem anstrengend. Der Erfolg des Projektes ist auch ein bisschen auf die Langfristigkeit angelegt. Perspektivisch muss dieses Projekt viel länger laufen, damit man wirklich in jede Region kommt und ansetzen kann. Eigentlich sollte die „Schatzkiste Sachsen“ schon fertig sein, bevor wir das Projekt starten. Wir haben aber bisher nur vier Regionen, die bei der „Schatzkiste“ mitmachen wollen. Das sind die Regionen Zwickau, Leipzig, Bautzen und Dresden. Dort haben wir Ansprechpartner*innen. Es braucht alles seine Zeit.
Wir müssen insgesamt sehr viel evaluieren und immer Rückfragen starten, um den Bedarf zu klären. Wir haben z.B. bei der Bedarfsermittlung unter Menschen, die behindert werden, im Vorprojekt herausgefunden, dass 50 Prozent von den Teilnehmer*innen schon einmal sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren. Viel mehr als bei Menschen ohne sogenannte ‚Behinderung‘. Frauen mit sogenannter Behinderung bekommen darüber hinaus z.B. oft die Dreimonatsspritze anstatt der Pille. Das würden Frauen ohne sogenannte Behinderung sonst sicherlich nicht in so einer Häufigkeit machen. Es ist total abstrus.
*Anmerkung der Redaktion: Der Psychologe Abraham Maslow geht bei der Bedürfnispyramide davon aus, dass die Bedürfnisse eines Menschen zuerst auf einer Stufe weitestgehend befriedigt sein müssen, bevor die Bedürfnisse der nächsten Stufe für ihn wichtig werden und ihn motivieren.
Mehr zu dem Projekt "MELiSSE ": www.profamilia.de/melisse
Interview geführt am: 03. September 2019
Hallo!
Wir sind MELiSSE aus Dresden.
MELiSSE heißt:
Meine Liebe und Selbst-bestimmte Sexualität.
Was ist MELiSSE?
MELiSSE ist ein Angebot.
Wir bieten Beratungs-Gespräche an.
Und wir organisieren Veranstaltungen.
Für Menschen mit und ohne Behinderung.
Es geht um Liebe und Sexualität.
Und um alles, was damit zusammen-hängt.
Paul Berthold:
Die Gesellschaft nimmt Menschen mit Behinderung nicht als sexuelle Wesen wahr.
Menschen mit Behinderung wachsen ohne das Thema Sexualität auf.
Niemand spricht mit ihnen über Sexualität.
Menschen mit Behinderung dürfen essen.
Menschen mit Behinderung dürfen schlafen.
Das sind Grund-Bedürfnisse.
Aber Menschen mit Behinderung dürfen keinen Sex haben.
Doch auch Sex ist ein Grund-Bedürfnis.
Wir von MELiSSE sind der Meinung:
Alle Grund-Bedürfnisse müssen befriedigt werden.
Erst dann kann man sich um die anderen Bedürfnisse kümmern.
Wie zum Beispiel Schule, Arbeit, Wohnen.
Wir von MELiSSE denken außerdem:
Wenn man Menschen mit Behinderung als sexuelle Wesen wahrnimmt:
Dann ist ein Schritt zur Inklusion getan.
Ursula Seubert:
Eine wichtige Frage ist:
Wie können Menschen mit Behinderung ihre Sexualität ausleben?
Bei Menschen ohne Behinderung wird Sexualität im Privaten gelebt.
Zum Beispiel zu Hause mit dem Partner.
Menschen mit Behinderung leben oft in Einrichtungen.
Wohin können sie sich zurück-ziehen?
Paul Berthold:
Genau.
Deshalb sind die größten Hindernisse im Bereich Sexualität die Einrichtungen.
Und auch die Angehörigen.
Das Gespräch war am 3. September 2019.
MELiSSE
Kurztext in Gebärdensprache (das Video besitzt keinen Ton und keinen Untertitel):
MELiSSE
Bildbeschreibung und Einsprache des Kurztextes: